Der Abzocker ist der 51. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Hof Schildmann, Kastler Höhe, Donnerstag 26. Juni
„Du hast wohl gedacht, dass wir dich hier nicht finden, oder? Denkst du wirklich, dass wir so blöd sind und uns von deiner Fake-Adresse blenden lassen? Wir waren in deinem Haus und haben sofort gemerkt, dass du dort nicht lebst. Das hier ist also dein echtes Zuhause. Übel, Schmitt, sehr übel. Du verkriechst dich in dem alten Schuppen und meinst, dass du hier sicher vor uns bist. Vergiss es! Du bringst uns die Kohle, und zwar schnell! Hast du verstanden?“
„Ja, ich habe verstanden, aber ihr versteht mich nicht! Meine Freundin hat den Schlüssel geklaut, ich komm nicht an das Geld ran.“ Michael Schmitt wimmerte. Den Schlag, den er in den Magen bekam, würde er noch sehr lange spüren.
„Das mit deiner Tussi interessiert uns nicht. Wir wollen die Kohle, alles andere ist uns egal. Du hast Zeit bis heute Abend. Wenn das Geld nicht da ist, wirst du uns von unserer unfreundlichen Art kennenlernen.“
„Aber…“
„Du kapierst es nicht, oder? Die Frau ist dein Problem. Wir wollen heute Abend unser Geld! Es gibt keinen weiteren Aufschub. Verarschst du uns, wirst du es bereuen!“
Die beiden Männer gingen und ließen Schmitt zurück. Der stand unter Schmerzen auf und ging in die Küche. Wütend schöpfte er die Suppe in den Teller und warf die Wasserflasche aufs Tablett. Seine Gedanken kreisten um den Schlüssel und um das Problem, wie er an ihn rankam. Gina hatte ihn gestohlen, obwohl sie das immer abstritt. Aber es konnte nur sie gewesen sein. Niemand sonst kam in der fraglichen Zeit an seinen Geldbeutel, sie musste den Schlüssel haben. Gina war heute fällig. Ab sofort bettelte er nicht mehr, sondern forderte, was ihm gehörte. Notfalls musste er Gewalt anwenden.
„Hier, iss das!“ Michael Schmitt schob das Tablett in den dunklen Raum. „Und halt ja den Mund, verstanden? Ich bin weg, komme erst heute Abend wieder.“
Sylvia kauerte apathisch in der Ecke des Raumes, der schon immer ihr Zuhause war. Sie hörte den Mann, verstand aber nicht, was er sagte. Ihr Wortschatz war sehr eingeschränkt, sie hatte nie gelernt zu sprechen. Trotzdem verstand sie mehr, als ihr bewusst war. Sie sog jedes Wort wie ein Schwamm auf, auch wenn sie den Sinn nicht verstand. Als ihre Mutter noch lebte, hörte sie sie oft durch die verschlossene Tür und das verbarrikadierte Fenster reden. Sie sprach von Sonne, vom Duft der Rosen und von vielen anderen Dingen, die sie selbst noch nie gesehen und erlebt hatte. Was war die Sonne? Was waren Rosen? Und was war Duft? Sylvia wusste es nicht. Ihre Mutter sprach nur sehr selten mit ihr, und wenn, dann verstand sie auch das nicht. Sie sprach irgendwann von einem Mann und benutzte das Wort Vater, beides war ihr fremd. Sie verstand nicht, was das bedeutete. Da sie mit Worten nur schlecht umgehen konnte, sprach sie schon lange nicht mehr, zumal ihre Mutter immer ungeduldig und unbeherrscht war. Es gab Schläge, die sie nicht riskieren wollte, auch deshalb blieb sie lieber stumm und kauerte sich in die schützende Ecke. Als der fremde Mann irgendwann kam und ihr sagte, dass ihre Mutter gestorben sei und er sich jetzt um sie kümmern würde, verstand Sylvia auch das nicht. Ihre Mutter kam nicht mehr, dafür war der Mann da. Sie nahm es hin, daran ändern konnte sie sowieso nichts. Es würde sich nichts für sie ändern. Sylvia vermisste den Geruch ihrer Mutter, den sie immer hinterließ, wenn sie aus dem Zimmer ging. Das war jetzt vorbei, jetzt war er da. Er brachte Essen und Trinken, leerte den Eimer und brachte Kleidung. Aber er sprach mehr mit ihr, als es ihre Mutter getan hatte. Sylvia merkte sich jedes Wort und wiederholte es wieder und wieder, sobald sie allein war. Ob das Sinn ergab, was sie sagte? Sie wusste es nicht, aber diese Worte waren ihr einziger Zeitvertreib. Dass sie größer wurde, bemerkte sie, aber sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Anfangs empfand sie ihr Bett als riesig, inzwischen füllte sie es fast vollständig aus. Ihre Haare waren sehr lang, das des Mannes kurz. Die Haare ihrer Mutter waren sehr schön gewesen. Wenn sich die Tür öffnete, blendete sie das Licht, das von draußen zu ihr drang. Trotzdem bemerkte sie, dass sich der Glanz des Lichtes im Haar ihrer Mutter spiegelte. Ob ihr Haar auch glänzte? Sie wusste es nicht, denn sie hatte sich noch nie selbst gesehen.
Sylvia stand auf und ging zielsicher zur Tür. Trotz der Dunkelheit kannte sie jeden Zentimeter ihres Zimmers. Sie nahm den Teller und roch daran. Gemüsesuppe. Mit ihrer Zunge ertastete sie verschiedene Stücke, die sie zuordnen aber nicht benennen konnte. Sie aß langsam, sie hatte jede Menge Zeit.
Dann kauerte sie wieder in ihrer Ecke und versuchte, sich an die Worte des Mannes zu erinnern. Wort für Wort wiederholte sie, was er sagte. Er sprach heute sehr viel und sie musste sich konzentrieren. Trotzdem schaffte sie es, alles zu wiederholen, auch wenn sie nicht sicher war, ob die Reihenfolge stimmte. Das war ihr Zeitvertreib, mehr hatte sie nicht. Wann der Mann wiederkam? Es war ihr egal. Was mit ihr geschah, wenn er nicht mehr käme? Auch das war ihr egal.
Dass Michael Schmitt nie wieder kommen würde, wusste Sylvia nicht. Ihr Leben stand ab diesem Zeitpunkt am Abgrund, denn die Zeit arbeitete gegen sie.
Noch bevor Michael Schmitt in seinen Wagen steigen konnte, klingelte sein Handy. Als er die Nummer erkannte, stöhnte er. Schon wieder diese Frau.
„Was willst du?“, brummte er unfreundlich.
„Guten Morgen, mein Liebling. Hast du gut geschlafen?“
Schmitt musste sich zusammenreißen, schließlich war die hässliche, fette Frau eine wahre Goldgrube, auch wenn sie ihm jetzt schon tierisch auf die Nerven ging und er sich vor ihr ekelte. Bei ihr gab es viel zu holen, er musste sie sehr gut behandeln, damit sie ihm vertraute – so wie all die anderen dummen Frauen vor ihr. Dass er ein Talent hatte, Frauen zu umgarnen, sie für sich zu gewinnen, um den Finger zu wickeln und ihnen dann all ihr Geld und den schönen Schmuck abzunehmen, merkte er nach dem Tod seiner Lebensgefährtin, Sylvias Mutter. Damals war er am Boden, konnte mit der Trauer und dem Verlust nur schwer umgehen. Aber durch diese Frauen fand er zurück ins Leben, konnte seinen Lebensunterhalt bestreiten und hatte bereits einiges zur Seite geschafft. Nicht auf die Bank, denen vertraute er nicht. Alles, was er hatte, war sicher im Haus versteckt. Und die hässliche Frau, die er aktuell an der Hand hatte, würde seinen Reichtum deutlich vergrößern.
„Ich habe sehr schlecht geschlafen, deshalb war ich auch so unfreundlich. Es tut mir leid, mein Engel.“
„Das macht doch nichts. Was hast du heute vor?“
„Heute werde ich leider keine Zeit für dich haben, was mich sehr traurig macht, denn ich sehe so gern in dein engelsgleiches Gesicht und verliere mich in deine wunderschönen Augen.“
„Du Schmeichler.“
„Ich sage nur die Wahrheit, mein Engel. Morgen habe ich den ganzen Tag Zeit für dich, und wenn du möchtest, auch die ganze Nacht.“
Das folgende Kichern der Frau sagte Schmitt, dass alles wieder in Ordnung war.
„Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag, mein Schatz. Bis morgen, ich kann es kaum erwarten.“
„Bis morgen. Küsschen, mein Engel. Ich liebe dich.“
Das Gespräch war beendet und Schmitt stieg in seinen Wagen. Die Frau war schnell vergessen, es gab jetzt Wichtigeres. Er sah auf die Uhr. Gina war schon lange im Geschäft, er musste dringend zu ihr. Ohne den Schlüssel brauchte er heute Abend nicht auftauchen, das war klar. Diese Leute, mit denen er sich nur wegen des Geldes eingelassen hatte, verstanden keinen Spaß. Er übernahm Kurierdienste, ganz normale Botengänge, die sehr gut bezahlt waren. Das Procedere war sehr einfach. Man übergab ihm eine Tasche mit Geld, die er in einem Schließfach zu hinterlegen hatte. Nach Aufforderung musste er die Tasche dann an einen Ort bringen, der ihm telefonisch mitgeteilt wurde. Keine große Sache und sehr leicht verdientes Geld. Aber dann war der Schlüssel weg, und den hatte nur er. Niemand sonst kam an das Geld, das wusste er. Der Schlüssel war immer in seiner Brieftasche, aber vor zwei Monaten bemerkte er, dass er weg war. Natürlich verdächtigte er sofort Gina, eine der Frauen, die er so ausnahm wie alle anderen auch. Gina war immer wieder aufgetaucht und belästigte ihn. Nur sie war es, die immer in seiner Nähe war – und nur sie hatte die Möglichkeit, an seine Brieftasche zu kommen. Und die Frau war jetzt fällig. Wütend fuhr er nach Altötting. Sein Ziel war das Devotionaliengeschäft, in dem sie arbeitete.
2.
Leo Schwartz und Charly Dallmeyer starrten beide auf die Leiche eines Mannes in einem abgelegenen Teil des Altöttinger Forstes, die dort noch nicht lange lag. Der Verwesungsprozess war noch nicht weit fortgeschritten. Da die Leiche seitlich lag, konnte man die große Wunde am Hinterkopf sehr gut sehen.
„Erschlagen?“
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, nickte.
„Todeszeitpunkt?“
„Schwer zu sagen, ich bin kein Pathologe.“
„Und wenn Sie schätzen müssten?“
„Sie wissen doch, dass ich das nicht mag“, brummte Fuchs und sah Leo an. Aber der würde so schnell keine Ruhe geben, das wusste Fuchs. „Etwa 2-3 Monate.“
„Papiere?“
Fuchs zeigte auf einen Beutel in seinem offenen Koffer. Leo zog Handschuhe an, nahm den Beutel an sich und zog die Brieftasche heraus.
„Xaver Prechtl, wohnhaft in Altötting, Bruder-Konrad-Platz 5“, murmelte Leo und sah Charly an, dem die Adresse auch nichts sagte, obwohl er seit Monaten mitten in Altötting wohnte.
Fuchs sah die Kollegen an und schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ihnen sagt die Adresse nichts? Das ist doch nicht zu fassen! Ich hätte Ihnen mehr Allgemeinwissen zugetraut. Bei der Adresse handelt es sich um das Kapuzinerkloster St. Konrad. Noch nie was davon gehört?“
„Ich nicht. Und du?“, sah Charly den Kollegen Leo an.
„Ich schon. Aber da ich mit Kirchen nichts am Hut habe, kenne ich die Adressen zu den zugehörigen Kirchen auch nicht auswendig.“
„Banausen!“, sagte Fuchs und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Leo und Charly sagten nichts dazu, schließlich kannten sie beide Fuchs‘ Laune nur zu gut – und die war heute wieder sehr schlecht.
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Fragen Sie den Kollegen der Altöttinger Polizei. Das ist der Mann dort hinten, der mit der Presse spricht und der nach meinen Informationen auch die Kripo gerufen hat. Der Kollege kann Ihnen Auskunft geben. Er scheint zuerst hier gewesen zu sein, zumindest war er sehr viel früher hier als Sie beide.“ Charly hörte den leisen Vorwurf, Leo war das egal. „Ich an Ihrer Stelle würde dem Kollegen verbieten, der Presse gegenüber Auskunft zu geben, aber das ist nur meine Meinung. Und jetzt bitte ich darum, mich in Ruhe zu lassen, schließlich habe ich hier einen Job zu erledigen, von dem Sie mich abhalten!“
„Der ist ja heute wieder super drauf“, schimpfte Charly, der nicht übel Lust hätte, sich mit Fuchs anzulegen. Leo winkte nur ab. Fuchs‘ Befinden interessierte ihn nur am Rande, viel wichtiger war die Leiche.
Charly und Leo gingen zielstrebig auf den Kollegen zu, auf dessen Brust der Name
Georg Tandler stand.
„Wenn ich Sie bitten dürfte?“, zog Leo den Mann zur Seite. Auch, um weitere Informationen an die Presse zu vermeiden, da war er mit Fuchs ganz einer Meinung. Die drei gaben ein lustiges Bild ab, denn Leo und Charly mit ihren stattlichen Größen überragten den untersetzten Tandler um fast einen halben Meter, weshalb sie immer nach unten und Tandler nach oben sehen musste.
„Schwartz mein Name, das ist der Kollege Dallmeyer.“
„Haben Sie Kaffee mitgebracht?“, sagte Tandler lachend.
„Wieso?“
„Wegen dem Namen Dallmeyer.“ Jetzt lachte Tandler noch lauter.
„Wie ich sehe, sind Sie mit einem sonnigen Humor gesegnet, sonst würden Sie sich in Gegenwart der Leiche nicht so benehmen.“ Charly war sauer, aber Leo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es kam nicht selten vor, dass sich Charly wegen seines Namens einen dummen Spruch anhören musste, was Leo insgeheim sehr lustig fand.
„Sie meinen, ich müsse mich zusammenreißen und darf in Gegenwart einer Leiche keine Witze machen? Kommen Sie, das ist doch lächerlich. Es gibt vielleicht Kollegen, denen das an die Nieren geht, die sich sogar übergeben müssen. Bei mir ist das nicht so. Leichen machen mir nichts aus. Wenn doch, dann hätte ich meinen Beruf verfehlt. Es gibt echt Schlimmeres. Erst vor wenigen Tagen wurden wir im Falle häuslicher Gewalt gerufen, das war heftig. Aber das hier“, zeigte er auf die Leiche, „ist dagegen harmlos. Sie hätten die Frau sehen sollen. Sie war blutüberströmt und konnte kaum laufen. Der Mann hat nicht etwa randaliert und war frech, sondern saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch und hat sich selbst bedauert.“
„Schlimm“, sagte Leo, der das sehr gut nachvollziehen konnte. Aber wegen der Geschichte waren sie nicht hier. „Sie waren heute zuerst vor Ort?“
„Als der Anruf reinkam, fuhren wir sofort hierher. Ich bin ortskundig, bin in Altötting geboren und aufgewachsen. Außerdem bin ich regelmäßig im Altöttinger Forst, hier gehen meine Marie und ich gerne spazieren.“
„Ihre Frau?“
„Nein, mein Pudel.“
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Der Mann dort hinten. Er sagt, dass er jeden Tag hier joggt“, sagte Georg Tandler.
„Er machte eine Pinkelpause?“, hakte Leo nach, da er nicht verstand, wie man so weit vom Waldweg entfernt über eine Leiche stolpern konnte.
„Nicht direkt“, druckste Tandler herum.
„Was soll das heißen?“
„Er hat Durchfall und hat sich hier erleichtert“, zeigte er auf einen Punkt, der etwa drei Meter entfernt war.
„Er hat in den Wald geschissen?“ Charly sah den Polizisten mit großen Augen an.
„Ja, die Hinterlassenschaft ist noch da.“
„So eine Sau“, maulte Charly und verzog das Gesicht.
„Was soll er machen? Sich in die Hose kacken?“, meinte Leo und schüttelte den Kopf. Für ihn war das ein menschliches Bedürfnis, nicht mehr und nicht weniger. „Hat er die Leiche angefasst?“
„Er sagt nein, aber sicher bin ich mir nicht. Ich kenne Menschen und ihre Reaktionen, das bringen der langjährige Dienst und die Erfahrungen mit sich. 34 Jahre“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. Leo könnte mit seinen sechzig Jahren inzwischen auch einiges an Dienstjahren auffahren, was er aber nicht tat, während Charly mit siebenunddreißig Jahren der Jüngste war und noch einiges vor sich hatte. Beide Kripobeamte sagten nichts dazu, warum auch?
„Sie halten sich zu unserer Verfügung, Kollege Tandler. Und kein Wort mehr an die Presse, verstanden? Wenn ich morgen Interna in der Zeitung lese, werde ich ungemütlich.“
„Ich habe nichts gesagt, ich schwöre!“
Georg Tandler wurde panisch. Was hatte er der Presse gegenüber gesagt? Doch nicht etwa zu viel? Er hielt Ausschau nach dem Mann, mit dem er vorhin gesprochen hatte – aber so, dass er von den beiden Kriminalbeamten nicht dabei gesehen wurde.
„Mein Name ist Schwartz, das ist der Kollege Dallmeyer“, wiesen sich die beiden aus. „Haben wir Ihre Personalien?“
Der Mann nickte.
„Sie haben den Toten gefunden?“, setzte Leo nach…
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