Kapitel 1
Der Schnee fiel leise, beinahe lautlos auf die Straßen Münchens. Die Welt draußen war in ein weiches Weiß gehüllt, das alles Geräuschvolle dämpfte.
Es war einer dieser Wintertage, der Bilder von strahlenden Bergen, glitzernden Hängen und der Freiheit des Skifahrens weckte. Doch für mich war es mehr als das. Irgendetwas lag in der Luft. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Ich zog die Vorhänge beiseite und blickte hinaus. Der Himmel war voller Schneewolken, ein eisiger Vorhang, was fast unwirklich schien.
In der Ferne, hinter den Häusern der Stadt, konnte man die Alpen ein wenig erahnen, in meiner Vorstellung schneebedeckt und einladend. Der Wetterbericht sollte recht behalten: Es würden schneereiche Wintertage werden. Perfekt für ein paar Skitage. Mein Blick fiel auf die Skiausrüstung, die in der Ecke des Ferienapartments lehnte. Die Stiefel waren älter, genauso wie die Ski, die schon bessere Tage gesehen hatten. Wie sie mir ans Herz gewachsen waren, Relikte aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der das Leben schlichter gewesen war. Ich nahm einen Schluck von meinem starken Kaffee. Die Wärme breitete sich in meinem Körper aus, doch sie konnte das Unbehagen nicht vertreiben, das sich seit gestern Abend in mir festgesetzt hatte.
Es war ein Gefühl, das ich nicht abschütteln konnte, als ob jemand mich beobachtete. Gestern, gegen neun Uhr abends, hatte ich auf dem Balkon gestanden, um frische Luft zu schnappen. Der Nebel hatte die Straßen verschluckt und die Welt wirkte kleiner, begrenzter. Da war es gewesen: ein Auto, das langsam die Straße entlangfuhr, fast schleichend. Es hatte an der Ecke gehalten, der Motor lief noch. Die Silhouette eines Mannes war hinter der Windschutzscheibe zu erkennen, doch die Dunkelheit machte es unmöglich, sein Gesicht zu sehen. Ich hatte mich bewegt, ein paar Schritte gemacht, und in diesem Moment wurde das Auto abrupt zurückgesetzt. Der Fahrer hatte gewendet und war verschwunden. Seitdem arbeitete dieses gewisse Gefühl in mir. Es war keine Angst, sondern eher ein Instinkt, der mich warnte. Ich hatte diesen Instinkt in meinem früheren Leben oft genug gespürt, um ihn ernst zu nehmen.
Doch heute war ein neuer Tag. Ein Tag, der nach Bergen und Freiheit schrie. Ich zwang mich, die Gedanken beiseitezuschieben, zog meine Jacke über und begann, meine Sachen zu packen. Die Ski, die Stöcke, die alten Skistiefel. Alles fand seinen Platz im Kofferraum meines Wagens. Die Kälte biss in meine Finger, als ich den Schnee von der Windschutzscheibe wischte. Ich dachte an meine Kindheit, an die nass gefrorenen Strickfäustlinge. Es war der erste Moment des Tages, der mich wirklich wach machte.
Die Straßen aus München hinaus waren überraschend leer. Die Stadt schien noch zu schlafen, und nur hin und wieder begegnete mir ein anderes Auto. Der Schnee glitzerte im Licht der Straßenlaternen und die Welt wirkte friedlich. Ein trügerischer Frieden, wie ich später erfahren würde. Mit jedem Kilometer, den ich auf der Autobahn A96 Richtung Süden zurücklegte, wurde der Himmel heller. Die Sonne kämpfte sich über den Horizont und tauchte die Landschaft in ein goldenes Licht. Die Alpen rückten näher und ihr Anblick ließ mein Herz ruhiger schlagen.
In Percha am Starnberger See wartete Rainer auf mich. Er war einer meiner ältesten Freunde. Ein Mann, der nie viel Aufhebens um sich machte und das Leben nahm, wie es kam. Er stand an der Straße, die Hände in den Taschen seiner dicken Winterjacke, schon lässig, mit einem Sonnenbrillenbügel zwischen den Lippen. Als ich den Wagen anhielt, nickte er mir zu.
„Na, du oide Wursthaut!“, rief er grinsend, während er auf mich zuging.
Ich schüttelte den Kopf und lachte.
„Wenn schon, dann Weißwuscht im Skianzug bitte.“
Rainer war der Typ Mensch, der in jeder Situation einen Witz machen konnte. Vielleicht war es seine Art, mit der Welt umzugehen, oder er hatte wirklich nichts, was ihn aus der Ruhe bringen konnte. Jedenfalls war er genau das, was ich heute genoss.
„Wohin geht’s?“, bestaunte er meine alten Ski, während er sein neuestes Skimodell und die Schuhe ins Auto legte.
„Talstation am Laber“, gab ich schmunzelnd zu Protokoll.
„Ah, der alte Laber“, murmelte Rainer und lehnte sich zurück. „Na gut. Aber i sag’s dir gleich, meine Knie machen heute keine Abenteuer mit.“
„Keine Sorge“, beschwichtigte ich schmunzelnd. „Die Gondel bringt uns rauf. Und ich verspreche dir, dass du dabei nicht ins Schwitzen kommst.“
Die Landschaft um uns herum wurde immer winterlicher. Der Schnee lag dick auf den Bäumen und die Straße führte uns in sanften Kurven durch die Landschaft. Es war, als ob die Welt hier oben langsamer wurde, fernab vom hektischen Leben in der Stadt. Doch trotz der Schönheit der Landschaft konnte ich dieses Gefühl nicht abschütteln. Es war wie ein Schatten, der mich nicht mehr losließ. Ich blickte in den Rückspiegel, fast instinktiv und sah nichts außer den leeren Straßen hinter uns.
„Alles in Ordnung?“, fragte Rainer.
„Ja“, log ich. „Alles gut.“
Doch tief in Rainers Inneren wusste er, dass das nicht stimmte…
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